Disney erzählt in seinen Animationsfilmen gerne an der Heldenreise entlang. Und – wie in Musicals – eignen sich besonders die Filmsongs dazu, einzelne Stationen der Heldenreise in einem mini Höhepunkt zu verdichten.
Wie genial Disney Storytelling lebt, schauen wir uns heute am Beispiel von Elsas Song „Into the Unknown“ aus dem Animationsfilm Frozen II an. Alleine der Songtitel ist ein Volltreffer. Denn in der Heldenreise reist der Held (Protagonist) von der „Ordinary World“ in die „Unknown World“. Der Titel bringt auf den Punkt, warum Elsa den Ruf erstmal ablehnt: Sie hat Angst vor der unbekannten Welt und den Geheimnissen und Gefahren, die diese bereithält.
Du möchtest genau verstehen, wie der Filmsong „Into the Unknown“ die Heldenreise Stufe 3 verkörpert? Dann:
Schau Dir den Ausschnitt aus Frozen II einmal in voller Länge (und mit voller Lautstärke) an. Danach analysieren wir gemeinsam, wie das perfekte Zusammenspiel von Story (Songtext), Musik und Animation die Heldenreise Stufe 3 „Verweigerung des Rufs“ verkörpern.
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Schon im Songtext kannst Du immer wieder erkennen, wie Elsa den Ruf wahrnimmt und verdrängt. Besonders in einigen Zeilen der ersten beiden Strophen wird das mehr als deutlich:
„I can hear you, but I won’t“,
“You’re not a voice, you’re just a ringing in my ear”,
“I’m sorry, secret siren, but I’m blocking out your calls”.
Ab der dritten Strophe ändert sich der emotionale Duktus. Elsa erkennt an, dass am Ruf „was dran sein könnte“ und fühlt sich immer stärker zur unbekannten Welt hingezogen:
„Every day’s a little harder as I feel your power grow, Don’t you know there’s part of me that longs to go”.
Die Songwriter von „Into the Unknown“ sind Bobby Lopez (einer von nur 16 Menschen weltweit die einen Emmy, einen Oscar, einen Grammy und einen Tony Award gewonnen haben) und seine Frau Kristen Anderson-Lopez (2 Grammys, 2 Oscars). Gemeinsam erzählen sie in diesem Interview, wie sie den Song entwickelt haben.
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Vielleicht noch zur Erklärung des „vamps that has the 3 in the morning kind of feel”. Der Begriff Vamp bezeichnet im Jazz eine Begleitfigur, die meist in einer kurzen, sich ständig wiederholenden melodischen Abfolge besteht – hier auf dem Piano gespielt.
Was ich beim Anschauen des Videos spannend fand: wie Kristen ihrem Mann musikalische Zauberkräfte zuspricht – denn ich denke, das ist das wirkliche Geheimnis hinter solchen Disney-Erfolgen.
Es muss Musical-Wizards geben, die in ihrer Sprache einen Ruf und die darauf antwortende Verweigerung des Rufs komponieren können. Die genau wissen, welchen Soundteppich in welcher Tonart sie ausbreiten müssen. Und an welcher Stelle im Song die Schlaginstrumente Elsas Herzschlag imitieren müssen, um ihre emotionale Anspannung zu zeigen – achte mal drauf, Minute 1:50, nachdem Elsa aus der Rundbogen-Tür getreten ist.
Genauso muss es Animateure geben, die die Dynamik des Songs in Bilder umsetzen können, und dabei Emotionen und Gedanken in Körpersprache, Mimik und Gestik übertragen. Wie wichtig dabei das Storyboard ist und wie dramaturgisch exakt Elsa von der Verweigerung des Rufes zur ersten Akzeptanz eines möglichen Abenteuers geführt wird, ist verblüffend.
Merke: eine gute Story hat immer eine mathematisch-dramaturgische Grundlage, die dann mit künstlerischem Handwerk und emotionalem Finetuning berührend wird.
Ich füge Dir hier nochmal ein Video ein, in dem Song und Storyboard im Split-Screen gezeigt werden. Unterhalb des Videos kannst Du genauer nachlesen, auf was Du beim Anschauen achten solltest, um die „Verweigerung des Rufs“ auch aus Animationssicht besser zu verstehen.
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Die sich wiederholende in Bewegung und Körpersprache umgesetzte Hinwendung und Abwendung vom Ruf ist hier deutlich erkennbar: Augen zu, Augen auf. Kopfkissen über den Kopf ziehen, Kopfkissen resigniert weglegen. Aus dem Fenster schauen, auf die schlafende Schwester schauen. Durch die erste Tür, die Schlafzimmertür, gehen – diese aber mit Blick zurück ins Schlafzimmer und sehr behutsam schließen. Zuerst rückwärts auf den Flur schreiten, sich erst danach umdrehen.
Bevor Elsa auf den Balkon tritt, wendet sie sich nach links und rechts, ringt mit sich. Ihr ganzer Körper drückt ihre Zerrissenheit aus – bis sie endlich Mut fasst, die Tür aufstößt und sich das erste Mal ohne häuslichen Schutz den Elementen aussetzt. Schau genau hin, wie dezidiert die Animateure bei den ersten Schritten auf dem Balkon Elsas Mimik und Gestik nutzen.
Obwohl es nur wenige Sekunden sind, kann man klar eine Mischung aus Vorsicht, Neugier, Scham, Staunen und Begeisterung erkennen. Danach das Durschreiten des steinernen Rundbogens – diesmal ist es keine Tür mehr, die sie öffnen muss. Auch das zeigt, wie fortgeschritten die Hinwendung zum Ruf ist. Bis dann in Minute 2:23 die Zauberkräfte einsetzen und Elsa von Schnee, Eis und Glitzer durch das letzte Drittel des Songs getragen wird. Sie drängt immer leidenschaftlicher der unbekannten Welt entgegen.